Nachdem wir nun erfahren haben, wie das mit dem lauten Senden überhaupt kam, versuche ich jetzt einmal, den technisch-psychologischen Hintergrund zu beleuchten. (Keine Angst, das hört sich nur so an.) Ich beschränke mich dabei auf das für unseren Hörrundfunk wesentliche. Wer es etwas genauer wissen möchte, dem sei der äußerst sehenswerte Vortrag von Florian Camerer empfohlen, aus dem auch die folgenden Grafiken entlehnt sind, welche er mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.
Wichtig ist, daß der Lautheitseindruck, der im menschlichen Hirn entsteht, nicht vom Spitzen-, sondern vom Durchschnittspegel bestimmt wird. Jedes Schallereignis hat eine ihm eigene Lautheit, aufs Radio bezogen, sagen wir, Christina Aguilera eher lauter, der Oldie kommt dagegen eher schwach daher.
Sehen wir uns mal dieses Bild an:
All diese Dinge stellen symbolisch ein Audioprogramm dar (also ein Stück Ton: Werbespot, Klavierkonzert und was auch immer), und zwar mit deren ganz unterschiedlichen Lautheitsmerkmalen – von „ping“ bis „WUMMS!!!“ eben. Die haben, wie wir sehen, jede Menge – merken! – Dynamik. Nur haben wir vom Radio jetzt das Problem, diese Dynamik irgendwie durch unsere Übertragungskette zu bugsieren, die macht das nämlich gar nicht mit! Am unteren, leiseren Ende rauscht es, und oben fängt es ab einem gewissen Pegel an zu verzerren. Ganz schlimm, geht nicht! Die Spitzen müssen also so weit reduziert werden, daß sie nicht in den verzerrenden Bereich, den stellt die rote Linie im Bild dar, hineinragen. Wir nennen diesen Vorgang „aussteuern“, manche nehmen dafür zusätzlich einen Begrenzer, Limiter, her. Mit Erfolg: keine der Spitzen ragt über die rote Linie hinaus.
Technisch haben wir jetzt die Kuh vom Eis, aber wie sieht es psychoakustisch aus? Dazu betrachten wir einmal, wo die Schwerpunkte der einzelnen Programme liegen, denn der Schwerpunkt verdeutlicht in dieser Analogie sehr gut deren Lautheit. Und die jeweiligen Lautheitspunkte sind mit der gelben Linie verbunden.
Diese Linie, die Lautheitskurve, saust rauf und runter wie verrückt, das heißt in unserem Beispiel, es wird ständig lauter und wieder leiser: Nach C. A. ist der Oldie kaum noch zu hören und umgekehrt. Um das halbwegs erträglich zu halten, muß der Hörer praktisch ständig die Lautstärke nachstellen.
Kein Problem! Wir heben die leisen Stellen wieder an und achten gleichzeitig darauf, den Spitzenpegel nicht zu überschreiten. Dafür gibt es wieder Geräte, sie heißen Kompressor. Also los:
So, und jetzt ist aus der Kurve eine Gerade geworden, in der Tat, die Lautheit ist überall gleich. Geht doch! Mission accomplished.
Wo ist denn jetzt der Fehler? Wenn man sich genauer ansieht, was aus den einzelnen Elementen geworden ist, wird man der Katastrophe gewahr: Die Spitzen (Schwert) sind plattgemacht, die richtig dicken Dinger (Säge) kaum noch zu erkennen, und, was am allerschlimmsten ist, andersherum werden kleinste Elemente (Dorne) übermäßig aufgeblasen! Diese Dorne entspricht z. B. den Atmern der Sprecher: Was normalerweise keinem auffällt, klingt plötzlich wie Asthma, und das nach jedem Halbsatz!
Wir haben die Dynamik zugunsten der Lautheit geopfert!
Und jetzt kommt der große Auftritt von R 128: Wir schmeißen nämlich erstens die Normalisierung nach Spitzenwert über Bord und normalisieren jetzt nach Lautheit, nach den Schwerpunkten! Das ist das neue an der Sache. R 128 gibt für Lautheitsmessung eine Vorschrift vor, um die müssen wir uns gar nicht kümmern, das machen Meßgeräte bzw. Software für uns. Wir müssen nur wissen, daß wir jetzt in einer neuen Einheit, den Loudness Units (LU) Lautheitsunterschiede messen. Und absolut: LUFS, full scale, null ist volles Rohr. Das schöne ist, daß die Skala mit Dezibel kompatibel ist: Nehme ich den Regler um 3 dB zurück, wird auch die Lautheit um 3 LU weniger.
Zweitens setzen wir den Zielwert, den Lautheitspegel, an dem sich alles orientiert, eher niedrig an, nämlich bei minus 23 LUFS. So sieht das dann aus:
Kuckt mal, alles auf gleicher Loudness! Und hey, alles wieder in seiner ursprünglichen Gewichtung! Jedes Element kommt wieder so zur Geltung, wie es ihm gebührt: Das Schwert ist kein Zahnstocher mehr, die Säge kann wieder richtig dicke Bretter sägen und die Atmer sind vom Asthma befreit.
Der Bezugswert ist im Vergleich zur Peak-Normalisierung nach unten gerutscht, wir sind also absolut ein ganzes Stück leiser geworden. Das ist auch unbedingt nötig, denn das „ping“ und das „Peng“ brauchen ja jetzt wieder ihren Headroom, ohne daß sie oben an der technischen Grenze anschlagen. Und nun kommt die Schwierigkeit: Der Nachbarsender, der auf R 128 pfeift, bläst uns lautheitsmäßig was um die Ohren. Dafür klingt er halt sch**ße. Man muß wissen was man will.
Ergänzung 1: Trotz der ganzen Lautheitsschönheit dürfen wir allerdings eins nicht aus dem Auge verlieren: Unsere Übertragungskette muß natürlich nach wie vor technischerseits vor Übersteuerung geschützt werden. Dies geschieht durch eine Begrenzung bei minus 1 dBfs. (Genauer: –1 dBTP, das hängt mit einem modifizierten Meßverfahren zusammen, das zu erläutern hier zu weit führt.) Achtung: Dies ist kein Zielwert! Das ist eine technisch bedingte Grenze, bis hierher und nicht weiter. Würde sie überschritten, regelte der R-128-Algorithmus alles herunter. Daher die Notwendigkeit des großen Headrooms.
Ergänzung 2: Falls Ihr Euer Programm ausschließlich aus R-128-normalisierten Titeln zusammenfahrt, braucht Ihr Euch um die Aussteuerung eigentlich nicht mehr zu kümmern, wohl jedoch, wenn Ihr herkömmliches Material, CDs, Schallplatten usw. einsetzt. In diesem Falle braucht Ihr einen speziellen Aussteuerungsmesser, hardware- oder softwareseitig.
Ergänzung 3: Wer glaubt, –23 LUFS seien furchtbar wenig: Der Florian hat sich die Mühe gemacht und alle (na ja, fast alle) europäischen Hörfunk- und Fernsehprogramme gemessen und davon den Durchschnitt errechnet. Heraus kamen –20 LUFS. Die Normalisierung auf –23 LUFS ist also gar nicht so einschneidend – es erscheint lediglich Leuten mit Brüllprogrammen so.
Ausgeglichene Grüße
TSD
Alle Grafiken © Florian Camerer/ORF/EBU, verwendet mit freundlicher Genehmigung.